Der Geograph und Forschungsreisende Georg Wegener (1865–1939) berichtete in seinen „Erinnerungen eines Weltreisenden“ 1919 davon, wie er die Sonnenfinsternis von 1898 in Indien erlebte. Die damalige Art, die Verfinsterung zu beobachten, sollte man aber heute auf gar keinen Fall nachmachen – schwere Augenschäden bis zur Erblindung können die Folge sein…
„Die Sonnenfinsternis, von der ich hier erzählen will, fand am 22. Januar 1898 statt. Damals traf der Kernschatten des Mondes die Erde im westlichen Sudan, schwebte von hier über den afrikanischen Erdteil und den Indischen Ozean und erreichte die indische Halbinsel um die indische Mittagszeit zwischen Bombay und Goa. Diese durchwanderte er auf einem rund 80 Kilometer breiten Streifen über Dschabalpur und Benares bis zum Himalaja, wo er über das höchste bekannte Berghaupt der Erde, den Mount Everest, hinstrich; dann zog er durch Tibet und China weiter und verließ die Erdoberfläche wieder in der Mandschurei. Die ganze ungeheure Reise legte er in ungefähr 3 Stunden zurück.
(…)
Inzwischen biß die schwarze Scheibe des Mondes langsam, aber stetig ein größeres und größeres Stück aus der leuchtenden Fläche der Sonne heraus – lange ohne daß in der Fülle des brennenden Mittagslichts, das über der Gegend lag, irgendeine Veränderung bemerkbar geworden wäre.
Endlich aber wurde es doch unzweifelhaft, daß die Helligkeit sich verminderte. Ein fremdes Gefühl beschlich das Herz.
Der Professor rief jetzt die Beobachter zu ihren Instrumenten; die nicht zu diesen gehörigen Zuschauer wanderten zu einem frei gelegenen Platze in der Nähe des Lagers und verfolgten mit gespannter Aufmerksamkeit die Zunahme der Dunkelheit. Unmeßbar fein, doch in größeren Zwischenräumen dem Bewußtsein deutlich wahrnehmbar, ging diese Abnahme des Lichts vor sich. Sie ließ sich weder mit dem Wachsen des Abenddunkels noch mit einer Verfinsterung durch Wolken vergleichen. Am nächsten kommt dem Vorgang noch die Betrachtung einer Gegend durch tiefer und tiefer getöntes, aber klares Rauchglas, wie es bei Schutzbrillen verwendet wird. Die Sonnenscheibe war bald nur noch ein feiner Goldstreif, der aber noch immer mit so blendender Kraft am Himmel strahlte, daß es nicht möglich war, ihn ohne die geschwärzte Glastafel anzusehen. Die Temperatur schien mit dem schwindenden Lichte so erheblich zu fallen, daß man fast Kühle empfand. Doch war dies eine psychische Täuschung, denn das Thermometer zeigte bisher ein kaum merkliches Sinken.
Zehn Minuten nach 1 Uhr wagten wir unsere Sonnenhüte abzusetzen – schon etwas Außergewöhnliches, was der Europäer in Indien um die Mittagszeit sonst aufs ängstlichste vermeidet. 48 Sekunden später ertönte zum ersten Male die laute Stimme des Zeitrufers über den Platz:
»Zehn Minuten!«
In zehn Minuten also sollte das letzte Fleckchen der Sonne verschwunden sein. Nicht nur unsere eigenen Stimmen sanken unwillkürlich zum Flüstern herab, sondern die ganze Natur schien den Atem anzuhalten. Ein Lufthauch, der vorher fühlbar gewesen, war gänzlich entschlummert, regungslos hingen die Blätter an den Bäumen, kein Zittern ging durch die Grashalme; in der Ferne heulte ein Schakal einige Male laut auf, dann schwieg er; kein Vogel flog mehr über die Ebene dahin. –
»Fünf Minuten!«
Ohne daß ich sagen kann, warum, stellten wir auch unser Flüstern ein; nur durch Gebärden machten wir uns noch auf einzelne Vorgänge aufmerksam. Endlich unterließen wir auch dies; ein jeder harrte für sich in ernster Auf-sich-Gestelltheit dem letzten Augenblick entgegen. –
»Zwei Minuten!« – »Eine Minute!«
Fremdartig sah die schon tief umdüsterte Gegend aus; die Blicke aber klammerten sich jetzt an die Sonne dort oben. Nur ein Fünkchen von ihr glühte noch am Himmel. Unweit davon war ein wunderschöner, mildleuchtender Stern hervorgetreten –
»Voll!«
Da war die Erscheinung in all ihrer wunderbaren Herrlichkeit, die nur so wenige im Leben begnadet werden, in voller Klarheit zu sehen!
Aber wie so ganz anders trat sie ein, als alle Beschreibungen lauteten, die ich bisher gelesen. Nichts war von einem schreckhaft heransausenden Mondschatten zu spüren gewesen. Keine besonders tiefe Dunkelheit brach im Augenblick der Totalität herein; es blieb eine sanfte Dämmerung, wie man sie in schönen Sommernächten des Nordens erleben kann; ich konnte die Ziffern des Sekundenblättchens auf meiner Taschenuhr sehen, wenngleich nicht mehr sie lesen. Kein anderer Stern erschien weiter für das bloße Auge am Himmel, als der eine große nahe der Sonne, der die Venus war.
Hoch am tadellos reinen, dunkel-graublauen Firmament hing – ein unerhört seltsamer Anblick – ein tiefschwarzer, runder Fleck, der finstere Ball des Mondes. Rings um ihn aber floß ein sehr heller, fast weißer Lichtkranz, und von diesem aus ergossen sich die Strahlen der Korona mit einem wundervoll edlen, silberblauen oder perlfarbigen Glanz in das Himmelsdunkel hinein. Neben einer Anzahl kleinerer waren es vier große, unregelmäßig verteilte Strahlenbüschel von etwa der dreifachen Länge des Monddurchmessers; helleuchtend in der Nähe des Ringes, gegen außen sich mit unmerklicher Abschattierung verlierend. Rote Protuberanzen waren nicht erkennbar. Nichts Feuriges, nichts Majestätisches hatte die Erscheinung, die ohne jedes Flackern ruhig am Himmel stand; wohl aber eine ganz unsagbare Zartheit und Reinheit. Wie der lichte Zauberglanz, den wir uns als Kinder wohl um das Haupt einer Fee gewoben denken, so schwebte die schimmernde Strahlenkrone dort oben und erfüllte das Herz mit dem leidenschaftlichen Wunsche, zum Augenblicke sagen zu dürfen: »Verweile doch, du bist so schön!« –
(…)
Eine Minute verstrich – auch die zweite – die Zeit war um. Sehr rasch wurde der Glanz des Lichtringes an der Seite, wo die Sonne hervorkommen mußte, heller, und urplötzlich – vielleicht war dies der schönste Augenblick des ganzen Schauspiels – brachen hier an verschiedenen Stellen des dunklen Mondrandes gleichzeitig feurige Funken von strahlendstem Goldglanz hervor, die schnell zu einem blendenden Bogen zusammenschossen. Es war, wie wenn eine Welle von Licht zuerst nur mit ihren höchsten Schaumperlen über einen finsteren Wall herüberleckte, dann aber sich in vollem Strom darüber ergoß. Die Dunkelheit unten über der Erde entschwebte rasch, aber so sanft, wie ein feiner Duft sich im Äther verflüchtigt.“
Quelle: Georg Wegener: Erinnerungen eines Weltreisenden. F. A. Brockhaus, 1919. via Projekt Gutenberg
Sofi im Bild: Infografik zur Sonnenfinsternis 2015
Infografik: Martin Mißfeldt von der Webseite www.sternenforscher.de (CreativeCommons-Lizenz CC-BY-SA).
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